Sonntag, 9. Februar 2014

Im Westen nichts Neues. Oder doch?

Quelle: kungfutius.blog.de
Mein letzter Eintrag liegt schon ein wenig zurück. Das liegt nicht daran, dass alles bereits gesagt wäre – ganz im Gegenteil. Eine Begegnung mit der Frauenrechtlerin und Rechtsanwältin Seyran Ates öffnete mir Türen zu neuen Gedankengängen und einer neuen Sichtweise auf das Kopftuch. Viel Zeit habe ich damit verbracht, meine eigene Ansicht und die Motivation hinter diesem Weltbild zu hinterfragen und justierte so meinen Standpunkt nicht gänzlich neu, aber doch deutlich anders – ohne Frau Ates Einstellung unreflektiert zu übernehmen.

Das entscheidende Moment für mich ist die Erkenntnis, dass ich zwei Dinge nicht sauber voneinander getrennt bzw. mir eine Frage selbst nicht ausreichend klar beantwortet habe: Die Frage nach dem Warum. Warum bin ich für das Tragen eines Kopftuches? Ich habe dies in den vorangegangenen Texten und in den Social Media Kanälen zwar bereits detailliert begründet, mich aber darin auch verloren. Denn: Stark heruntergebrochen beruht meine Einstellung auf dem Weltverständnis des Credos, alle Menschen sind gleich. Ich verabscheue Rassismus und die Diskriminierung von Menschen und Gruppen, die nicht ins eigene Weltbild passen möchte oder Befindlichkeiten stören. Jeder muss unumstößlich das Recht haben, tun und lassen zu können, was er möchte. Das gilt zumindest solange, wie kein anderer seelisch, körperlich oder in seinem Recht verletzt wird. Dafür stehe ich ein und dafür kämpfe ich.

Ich bin also gar nicht für das Kopftuch, sondern gegen Diskriminierung. Und deshalb sollen Frauen in Deutschland das Kopftuch tragen dürfen; natürlich unter der Prämisse, wenn sie es denn möchten. So weit so gut. Zu Ende gedacht? Leider nein.

Ich habe bereits ausgeführt, dass in Deutschland besonders in den Städten das Anlegen eines Kopftuches oftmals eine selbstbestimmte Handlung ist. Das glaube ich immer noch, auch wenn ich mir über die Ausnahmen durchaus im Klaren bin. Dennoch impliziert das Kopftuch folgende Botschaft über die Trägerin: Ich bin eine Frau, ich bin „das andere Geschlecht“, ich bin schwach und muss meine Haare als sexuellen Anreiz vor dem Mann verbergen. Am 3. Januar schrieb ich: „[…] Wir tragen ein Kopftuch zum Schutz. Es gibt mir Sicherheit. Ich verstehe nicht, was daran falsch sein soll.‘ Zu behaupten, dass solche sexuellen Übergriffe in Deutschland zwar möglich sind und vorkommen, jedoch keineswegs vergleichbar mit denen in Pakistan, Ägypten oder Iran sind, würde von der überhöhten Einschätzung der „zivilisierten“ westlichen Kultur zeugen, die sie bereits zu Kolonialzeiten zur Schau gestellt hat. Auch in Deutschland herrscht in vielen Köpfen noch die Höherstellung des Mannes gegenüber der Frau vor und auch hier glauben noch zu viele, Mann dürfe sich nehmen was gefällt.“  

Bislang kam ich zu dem Schluss, dass dieses empfundene Schutzgefühl doch ein legitimer Grund sei. Ich habe mich geirrt. Meine Argumentation beruht auf der Ansicht, dass nicht die Frau mit dem Kopftuch zu hinterfragen ist, sondern die Gesellschaft, in der ein solcher Schutz überhaupt erst benötigt wird. Das stimmt und davon weiche ich nicht ab. Ates sieht das genauso, zieht aber andere Konsequenzen. Sie fasst das Dilemma so zusammen:Das Kopftuch […] steht nicht für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Da mögen sich die "Feministinnen" mit Kopftuch noch so verbiegen in ihrer Argumentation; sie können es noch so modern und bunt binden und sich darunter noch so erotisch und sexy kleiden. Das Kopftuch ist die Flagge der Trennung der Geschlechter und der "Andersartigkeit", sprich Minderwertigkeit der Frauen. Es teilt Mädchen und Frauen in gute und schlechte. Da hilft es auch nicht, wenn die Kopftuchträgerinnen immer wieder runter beten, Männer und Frauen seien vor Gott gleichwertig. Gleichwertig bedeutet eben nicht gleichberechtigt.“ Das Patriarchat mit den Waffen der Männer zu bekämpfen, ist also genauso wirksam, wie dem Lungenkrebs mit einer Schachtel Zigaretten am Tag trotzen zu wollen: vollkommen wirkungslos und inkonsequent. 

Viele Menschen in Deutschland kritisieren das Kopftuch, weil es „aus dem Islam“ stammt, weil sie sich von der „fremden“ anderen Kultur bedroht und sich selbst zurückgesetzt fühlen. Einer solchen Diskriminierung entgegenstellend, verlor ich die Argumente aus den Augen, die wirklich gegen ein Kopftuch sprechen: Die Anerkennung der Frau als dem Mann gleichwertiges Geschlecht, sowohl in der Religion, als auch in der Gesellschaft. Das ist natürlich allgemein gültig und nicht allein auf den Islam gemünzt. Aber was bringt mir die Erkenntnis? Reiße ich zukünftig den Frauen ihre Kopftücher vom Haupt? Mitnichten. Solange christliche Krankenhäuser die Untersuchung von Vergewaltigungsopfern ablehnen, Frauen die Priesterweihe verwehrt wird, Empfängnisverhütung geächtet und geschiedene, unverheiratete Frauen ausgeschlossen und benachteiligt werden, hat keiner ein Recht, auf den Islam und das Kopftuch zu zeigen. 

Und nun? Alles beim Alten belassen und über die Missstände hinwegschauen, weil auch die eigene Kultur in einer gleichen Schieflage ist? Keinesfalls! Das Kopftuch ist "nur" ein weiteres Puzzlestück patriarchalischer Strukturen, die nicht nur in der Religion, sondern auch in der Gesellschaft gegeben sind. Damit ist es nicht nur Teil einer religiösen, sondern auch einer politischen Debatte. Auf dieser Basis und mit deren Mitteln gilt es einzugreifen und die Fesseln zu lösen – in der Religion, der Gesellschaft, in den Köpfen der Menschen. Wenn das erreicht ist, stellt sich die Frage nach einem Kopftuchverbot nicht mehr.

Dienstag, 14. Januar 2014

The refugee challenge: Can you break into Fortress Europe?

Großer Gott stehe mir bei, dass ich über keinen Menschen urteile, bevor ich nicht zwei Wochen lang in seinen Mokassins gegangen bin.
- Gebet der Sioux Indianer -


"Dein Name ist Karima. Du bist eine 28 Jahre alte, sunnitische Frau aus Aleppo und du hast zwei Kinder: eine 8-jährige Tochter und einen 10 Jahre alten Sohn. Dein Mann wurde bei einem Anschlag vor drei Monaten getötet. Die Luftangriffe hören nicht auf - erst vor kurzem tötete eine Bombe 87 Kinder und du fühlst, dass du Syrien verlassen musst." 

Karima ist fiktiv, aber eine von vielen Tausenden, die sich auf einen entsetzlich langen und gefährlichen Weg in die Ungewissheit machen, um ihr Leben und das ihrer Familie zu retten. In den (sozialen) Medien, beim Kaffee, Bier oder Abendessen: Überall wird über die neue "Flüchtlingswelle" und die damit verbundenen Herausforderungen für Deutschland, Italien und die EU diskutiert. Der "Guardian" geht weiter und lässt uns in die Rolle von Karima schlüpfen. Am eigenen Leib lässt sich durch die interaktive Reise erfahren, mit welchen Herausforderungen Flüchtlinge auf ihrer Route zu kämpfen haben.

Während bei uns viele schon an der Wahl ihres Getränks oder ihres Outfits scheitern, bekommt man hier eine Ahnung, unter welcher Bedrängnis und mit welchen weitreichenden Konsequenzen Flüchtlinge Entscheidungen treffen müssen, die für sie ganz real nicht nur die Welt, sondern auch das Leben bedeuten.
Probier es aus und triff existenzielle Entscheidungen, die dich entweder weiter nach vorne oder wieder weit zurück bringen:

“Refugees and ‘Fortress Europe’: put yourself in their shoes” 

Sonntag, 12. Januar 2014

„Wir müssen in Deutschland sozial zusammenwachsen.“


Als ich mein Kopftuch am Neujahrsmorgen anlege, trage ich es ganze fünf Minuten, ehe ich es wieder ablegen muss. „Das kannst du in Köln machen, aber nicht in meinem Haus“, werde ich sehr bestimmt darauf hingewiesen, dass es in diesen vier Wänden keinesfalls geduldet wird. Ich füge mich. Nicht weil ich die Konfrontation scheue, sondern weil es sich nicht gegen Muslima richtet, sondern vielmehr das Unverständnis mir gegenüber ausdrückt. Muslima, ob mit oder ohne Kopftuch, sind willkommen. Akzeptiert als Teil ihrer Religion werden sie gerne im Haus empfangen, so die Aussage. Ich aber, als nichtgläubige Frau habe dieses Privileg nicht. Mein Anliegen zählt nicht. Damit kann ich in diesem Moment leben, denn: Es ist eine Reaktion. Und es ist eine Reaktion, die mich zu einer weiteren, nicht ganz unwichtigen Frage führt: Wie positionieren sich Muslime zu meinem Kopftuch, das nicht Ausdruck meiner Religion, sondern vielmehr meiner Anerkennung, Sympathie und Freundschaft ist. Erreicht diese Botschaft die Muslime oder verletzt das Tragen einer islamischen Kopfbedeckung durch eine Ungläubige das religiöse Ehrgefühl?

Erste Antworten finde ich am vergangenen Freitag. Ich treffe mich mit meiner Freundin. Zusammen wollen wir herausfinden, wie ausgehtauglich das Kopftuch ist. In einer mexikanischen Bar bestelle ich bei einem sehr netten, gutaussehenden und zuvorkommenden Kellner ein „Sausalitos Fresh Lemon“. Der Name verschleiert das Wesen des Getränks. Es ist ein extra für die Bar hergestelltes Bier mit Zitronenflavour – so steht es in der Karte. Freundlich weist der junge Kellner mich darauf hin, nimmt die Bekräftigung meiner Bestellung aber locker und ohne Einwände entgegen. Wenige Minuten später  halte ich mein Getränk in den Händen. Ich bin dem jungen Mann sehr dankbar für seine Reaktion, weil sie mehrere Botschaften enthält. 1. Die Tatsache, dass ich ein Kopftuch trage, ändert nichts an seinem Umgang mit mir: Er ist so freundlich und locker, wie an jedem anderen Tisch auch. 2. Er geht auf mich und mein Kopftuch ein und weist mich auf den Alkoholgehalt im Getränk hin. Damit offenbart er nicht nur Akzeptanz für mein Kopftuch und die damit eigentlich zugrundeliegenden Werte und Doktrinen, sondern zeigt sich 3. mit meiner Entscheidung als „Muslima“ trotzdem Alkohol trinken zu wollen, konform. Dabei ist der junge Mann selbst ein Muslim.

Der zweite Kellner des Abends ist ebenfalls ein Muslim – nicht minder nett, sehr herzlich und für jeden Spaß zu haben. Wir verstehen uns gut, schäkern und sind uns sympathisch. Beim Abkassieren schaut er mich unvermittelt an und offenbart, was ihn offensichtlich seit unserem Erscheinen beschäftigt hatte: Die Frage nach meiner Motivation. Es ist ihm ein wenig unangenehm zu fragen, daher bekräftigt er immer wieder, mir nicht zu nahe treten zu wollen. Ich freue mich über sein ehrliches Interesse und berichte von meinem Versuch, meiner Motivation und ersten Erfahrungen. Er ist beeindruckt und erzählt seinerseits von einer Reportage über eine Journalistin, die er einst gesehen hat. Diese hatte das Kopftuch aus ähnlichem Grund getragen, aber bereits nach einer Woche aufgegeben, weil „sie die Blicke nicht mehr ertragen konnte.“ Soweit bin ich nicht. Auch wenn die drei Mädels, die aus Platzmangel mit uns an einen Tisch gesetzt wurden und selbst muslimisch, wenngleich auch ohne Kopftuch sind, keinerlei positive Energie in unsere Richtung frei lassen. Missmutig und stumm sitzen sie neben uns und bringen nicht einmal ein Lächeln zustande, als ich ihnen die Getränkekarten rüberreiche. Ob es an meinem Äußeren liegt, kann ich nicht beurteilen. Unwohl fühle ich mich dennoch nicht – meine Freundin und ich haben, auch dank der zwei Kellner, genügend positive Energie.

Wir verlassen das Lokal, wollen raus ins Getümmel und weiterziehen. Bereits im Vorfeld hatte ein Kollege meiner Freundin Sorgen geäußert, mit Kopftuch über die Kölner Ringe zu flanieren. Zu gefährlich hielt er die Idee, schließlich sei die Reaktion der Muslime nicht berechenbar. Seine Sorge zeigte sich unbegründet, spiegelt aber das durch Islamisten und die Medien gezeichnete Bild von religionsfanatischen, wenig toleranten und gewaltbereiten Muslimen wieder. Aber: Islamistisch und islamisch ist nicht dasselbe! Seine Sorgen bestätigen sich dementsprechend nicht, wenngleich die allgemeine Resonanz groß ist: Die Menschen schauen mich an, tuscheln, manche gaffen. Mir fällt es nur bedingt auf – dass ich angesehen werde, kenne ich spätestens seit ich mir einst die Haare blau und grün färbte nur zu gut. Auch sonst ernte ich mit meinen langen blonden Haaren, engen Jeans und knappen Tops in der Regel Blicke, die jetzigen sind aber keineswegs sexuell motiviert, sondern zeugen von Neugier, Unverständnis und  Unglauben. Selbst als zwei junge Männer sich zeitgleich ein zweites Mal nach mir umdrehen und dabei stolpern, fällt es nicht mir, sondern meiner Begleitung auf. Dabei stehen diese Reaktionen im Kontrast zu den Äußerungen der Menschen, mit denen wir direkt sprechen. Beeindruckt zeigen sie sich, sind begeistert, interessiert und finden mich mutig. Einige von ihnen kennen wir, einige nicht. Sie alle gehören aber zu einer Gruppe vor einer Bar, die untereinander befreundet sind und teilen daher einige grundsätzliche Weltansichten.

Dennoch klafft diese große Lücke zwischen dem unkommentierten Auftritt auf der Straße und der unmittelbaren Konfrontation in Form einer Unterhaltung. Ich beschließe, künftig nicht mehr von meinem Versuch zu erzählen, sondern die wahren Gründe für mein Kopftuch zu verhüllen. Die nächste Gelegenheit dazu taucht spontan auf: Ein Obdachloser spricht uns auf der Straße an und bittet um Kleingeld. Als ich ihm zwei Euro in die Hand drücke, fällt ihm meine Kopfbedeckung erst richtig auf. Ich bejahe seine Frage, ob ich aus religiösen Gründen die Kopfbedeckung trage und berichte konvertiert zu sein. Mit einem Lächeln ergreift der obdachlose, mitten in der nächtlichen Kälte umherziehender, mittelloser älterer Mann meine Hand, schüttelt sie und sagt den einen richtigen Satz: „Wir müssen in Deutschland endlich sozial zusammenwachsen.“        

Sonntag, 5. Januar 2014

„Kein Mensch muss müssen.“ – Nathan der Weise


Das Wort khimar (von dem khumur die Mehrzahl ist) bezeichnet die der Sitte von den arabischen Frauen vor und nach der Ankunft des Islam gebrauchte Kopfbedeckung. Nach den meisten klassischen Kommentatoren wurde sie in der vorislamischen Zeit mehr oder weniger als Schmuck getragen und lose über dem Nacken der Trägerin heruntergelassen, und da in Übereinstimmung mit der zu dieser Zeit vorherrschenden Mode das Oberteil des Frauengewandes vorn eine weite Öffnung hatte, waren ihre Brüste unbedeckt. Daher bezieht sich die Anweisung, den Busen mit einem khimar zu bedecken, nicht notwendigerweise auf den Gebrauch eines khimar als solchen, sondern soll vielmehr klarmachen, dass die Brüste der Frau nicht in die Vorstellung dessen einbezogen sind, was von ihrem Körper schicklicherweise sichtbar sein mag und deshalb nicht gezeigt werden sollte.“(Muhamad Asad, islamischer Gelehrte und Korrespondent der Frankfurter Zeitung: Die Botschaft des Koran, S. 677).

Was also als Schmuck und Zeichen eines sozialen Status (Sklavinnen, Arbeiterinnen und Dirnen war es verboten, sich zu verschleiern) begann, etablierte sich im Laufe der Zeit als Gebot für Muslima und hält seither eine 14 Jahrhunderte währende Tradition.

Als ich mein Kopftuch das erste Mal anziehe, lege ich gleichzeitig meinen Schmuck ab. Meine Piercings, die ich bis dato im Gesicht getragen habe, sind nun weg. Mein Spiegelbild zeigt mir ein ungewohntes Gesicht. Es ist mir nicht fremd, aber geschmückt fühle ich mich auch nicht. Für das Kopftuch habe ich einen Teil meiner Identität oder das, was ich damit verbinde, aufgegeben. Ich gefalle mir dennoch. Bei Frauen mit Kopftüchern faszinieren mich zumeist die Ausstrahlung ihrer Augen und die schön geschwungenen Augenbrauen, die ihnen im Zusammenspiel eine eigene Attraktivität geben. Auch meine blauen Augen leuchten auf einmal im Kontrast zu dem schwarzen Tuch, das mein Gesicht nun einrahmt, auf und ziehen die Blicke an. Nichts mehr zu sehen ist nun allerdings von meinen blonden Haaren, die ich doch gerade erst frisch hatte nachfärben lassen, meinen schönen Ohrringen oder meinem Dekolletés, sofern ich denn eins hätte. All das ist verschwunden. Stattdessen konzentriert sich nun alles auf mein Gesicht. Das kann Fluch und Segen sein. Ich empfinde mich selbst meistens als schön, nun wirke ich sehr blass und mein Gesicht ein wenig gedrungen, was ich mit etwas mehr Schminke als sonst zu richten versuche. Dennoch fühle ich mich insgesamt wohl, auch wenn mir mein Schmuck fehlt. Dafür habe ich nun neuen. Es gibt schließlich tolle Kopftücher mit Verzierungen, mit Perlen und in allen Formen und Farben. Dass ich ausgerechnet ein schlichtes schwarzes nehmen musste, ist meine eigene Schuld.

Wenn eine mir nahestehende Person, nennen wir sie Julia (Name geändert), also sagt: „Wenn jemand ein Kopftuch trägt, weil sie sich damit schmückt, ist das kein Problem“, ist damit dann das Kopftuch für sie legitimiert? Mitnichten. Auch sie erkennt die Tatsache an, dass es hübsche Tücher gibt, dennoch ist für sie das Kopftuch nach wie vor unweigerlich mit einer Form von Unterdrückung verbunden. Die einzige Legitimation, die sie zulässt, ist, wenn eine Frau aus freien Stücken möchte, dass nur ihr Mann sie unverhüllt sehen darf, „wenn es für sie etwas Besonderes ist.“ Gleichzeitig spricht sie eine solche freie Entscheidung den Trägerinnen aber ab, ihre kulturelle Prägung kann ihrer Ansicht nach eine solche Selbstbestimmtheit gar nicht zulassen. Das sehe ich anders.

Eine Frau im Hundepark sprach mich an, ob ich konvertiert sei. Sie hatte nicht mein europäisches Äußeres neugierig gemacht, sondern vielmehr die Tatsache, dass ich mich durch mein Kopftuch islamisch präsentiere, gleichzeitig aber Hundehalterin bin. Der Hund ist im Islam zwar nicht verboten, gilt allerdings als unrein und erfährt damit wenig Popularität unter Muslimen. Sofern ein Hund gehalten wird, lebt dieser in der Regel draußen, außerhalb des Hauses, um den Gebetsort nicht zu beschmutzen. Meine Absichten interessierten sie sehr und im Gespräch erzählte sie mir von einer Freundin, Fatima, die selbst Mutter zweier 13 und 15 Jahre alter Töchter ist. Sie selbst trägt ein Kopftuch, aus eigenem Wunsch, ihre beiden Töchter jedoch lässt sie frei wählen. Beide haben sich dagegen entschieden. Auch Nachmittage mit Freundinnen im Schwimmbad oder Saunabesuche (Kinder dürfen generell nur mir Frauen saunieren) unterbindet sie nicht, selbst geht sie jedoch nur zu den monatlich stattfindenden Saunatagen für Muslimas.

Es wäre fahrlässig zu behaupten, dass Fatima nicht aufgrund ihrer kulturellen Prägung ein Kopftuch trägt. An der Tatsache lässt sich nichts rütteln. Das bedeutet aber nicht unweigerlich, dass sie nicht anders handeln kann. Das sieht man an ihren Kindern. Natürlich sind diese auch zum Teil westlich geprägt – sie wachsen hier in Deutschland auf. Ersetzt wird dadurch die islamische Prägung aber nicht. Allenfalls erweitert. Ein einzelnes Beispiel, das Julias Theorie ins Wanken bringt. Nicht für sie. Dabei bin ich selbst das beste Beispiel dafür. Ich bin das Kind einer deutschen, zum Teil stark katholisch geprägten Familie, das eine entsprechende Erziehung genossen hat und in Deutschland groß geworden ist. Dennoch pflege ich Gedankengänge, die sich gegen das traditionelle Selbstverständnis dieser Kultur richten – sie zumindest nicht unreflektiert weitertragen. Die Angst vor fremden Kulturen, Religionen und ihren Praktiken, auf die sich die Vormachtstellung der westlichen Welt seit jeher begründet, ist mir fremd. Ein Lösen von traditionellen, vorgelebten und kulturell geprägten Denkmustern und Handlungen ist also grundsätzlich möglich.

Dementsprechend führten wir die Diskussion zum Thema sehr hitzig und laut. Sie endete abrupt im resignierten Auflegen des Hörers meinerseits – müde von den sich im Kreis drehenden Worttänzen. Julia dürfte mir dafür sehr dankbar gewesen sein. Was mir missfällt an ihrer Haltung, ist nicht nur die Prämisse, Unterdrückung sei die Mutter des Kopftuchs. Mich ärgert besonders die Ignoranz gegenüber anderen Ansätzen, anderer Denkweisen. Ich spreche keinesfalls ab, dass es fremdbestimmt Trägerinnen gibt. Genauso gibt es selbstbestimmte Prostituierte, ob man das glauben mag oder nicht. Aber es ist das Phänomen, alle über einen Kamm zu scheren, das ich nicht akzeptieren kann. Denn woran erkenne ich eine fremd- von einer selbstbestimmten Kopftuch-Trägerin? Daran, dass erstere hinter dem Mann läuft? Wohl kaum. Julias Reaktion und Haltung repräsentiert die der Gesellschaft. Sie feindet Kopftuchträgerinnen nicht an. Auch mir ist das in meinem Versuch bisher noch nicht passiert. Hinter der Stirn erfahren sie dennoch einen Stempel. Den der sich Beugenden, der Abhängigen, der Untergebenen, aufbauend auf eine Kultur, die sich gegen die Frau zu richten scheint.

Die Frage, ob sie damit nicht eigentlich ein Opfer, nämlich das der in der westlichen Kultur verhafteten Ansichten ist, stellt sie sich leider nicht.  

Freitag, 3. Januar 2014

Das Kopftuch - Unterdrückung oder Befreiung? Prolog


„Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke zu Boden schlagen und ihre Keuschheit wahren sollen und dass sie ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, bis auf das, was davon sichtbar sein muss, und dass sie ihre Schleier über ihre Busen ziehen sollen und ihre Reize vor niemandem enthüllen als vor ihren Gatten, oder ihren Vätern, oder den Vätern ihrer Gatten, oder ihren Söhnen, oder den Söhnen ihrer Gatten, oder ihren Brüdern, oder den Söhnen ihrer Brüder, oder den Söhnen ihrer Schwestern, oder ihren Frauen, oder denen, die ihre Rechte besitzt, oder solchen von ihren männlichen Dienern, die keinen Geschlechtstrieb haben, und den Kindern, die von der Blöße der Frauen nichts wissen. Und sie sollen ihre Füße nicht zusammenschlagen, sodass bekannt wird, was sie von ihrem Zierrat verbergen. Und bekehret euch zu Allah insgesamt, o ihr Gläubigen, auf dass ihr erfolgreich seiet.“ (Koran, Sure 24, Vers 32)

„O Prophet! Sprich zu deinen Frauen und deinen Töchtern und zu den Frauen der Gläubigen, sie sollen ihre verhüllenden Gewänder über sich ziehen. Das ist besser, damit sie erkannt und nicht belästigt werden. Und Allah ist allverzeihend, barmherzig.“ (Koran, Sure 33, Vers 60)

„Wenn ein Mann betet und prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt. Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht enthüllt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahlscheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen. Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen […].“ (Bibel, 1 Korinther 11, 4-7)

Schlägt man heute die Zeitung auf oder lauscht den Kneipengesprächen am Nachbarstisch könnte man glauben, dass das Kopftuch in den öffentlichen Diskussionen keine Rolle mehr spielt. Vorbei sind die Zeiten, in denen öffentlich und unter einem großen medialen Interesse das Für und Wider der vorwiegend islamisch geprägten Kopfbedeckung diskutiert wurde. Kopftücher sind entweder im allgemeinen Leben angekommen oder eben erfolgreich verdrängt und verboten worden. So zumindest scheint es. Tatsache ist aber, dass nach wie vor eine große Anzahl Frauen mit uns lebt, die aus verschiedenen Gründen ein Kopftuch tragen will und mit diesem Wunsch oftmals an die Grenze der gesellschaftlichen Akzeptanz stößt. Anwältinnen müssen vor Gericht ihr Kopftuch ablegen und auch Lehrerinnen ist das Tragen ihrer Kopfbedeckung in Schulen untersagt, mit Ausnahme des Islamunterrichts. Von den Hürden bei der Jobsuche mal ganz zu schweigen. Solche Regelungen kommen einem Berufsverbot gleich. Doch warum gibt es solche Regelungen überhaupt?
 
Der Westen erlebte das Kopftuch schon früh als Zeichen der Unterdrückung der Frau. Heute wird darin zudem die Stärkung der fundamentalistisch-muslimischen Kreise gesehen. Die Zuwanderungsdebatten und Anfeindungen gerade der türkisch-stämmigen Mitmenschen zeugen von der Angst vor einer kulturellen „Übernahme“. Aus diesem Grund ist bereits in einigen europäischen Ländern ein Verschleierungsverbot in Kraft getreten. In Deutschland ist das nicht denkbar – ein generelles Verbot im öffentlichen Raum verstößt gegen das Neutralitätsgebot des Grundgesetzes. Anders wird dies bei der Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandhabt. Im Landesgesetz können und sind Verbote für das Tragen einer Verschleierung erlassen worden. Laut des Bundesbeamtenrechts „[…] gibt es allerdings keine mit dem landesgesetzlichen Regelungen vergleichbaren Verbote des Tragens religiöser Bekleidung. Das politische Mäßigungsverbot kann grundsätzlich nicht dahingehend ausgelegt werden, dass Beamtinnen das Tragen von Kopftüchern oder Burkas verboten werden kann“, klärte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits 2010 auf.

An dem allgemeinen Konsens, Kopftücher zeichnen ihre Trägerinnen als rückständig und untergeben, kann dies jedoch kaum etwas ändern. Dabei ist das Kopftuch für die meisten Frauen ein Akt der Befreiung oder ein Mittel zum Selbstschutz. Eine pakistanische Bekannte begründete mir gegenüber einst das Tragen ihres Kopftuches als Sicherheit gegen sexuelle Übergriffe und Belästigungen. Sie verhülle ihre Haare, ihren Hals und ihre Brust, um weniger reizend auf Männer zu wirken. Sie beschwerte sich bei mir über das fehlende Verständnis in Deutschland dazu. „Wir werden nicht verstanden. Es interessiert auch niemanden wirklich. Wir tragen ein Kopftuch zum Schutz. Es gibt mir Sicherheit. Ich verstehe nicht, was daran falsch sein soll.“ Zu behaupten, dass solche sexuellen Übergriffe in Deutschland zwar möglich sind und vorkommen, jedoch keineswegs vergleichbar mit denen in Pakistan, Ägypten oder Iran sind, würde von der überhöhten Einschätzung der „zivilisierten“ westlichen Kultur zeugen, die sie bereits zu Kolonialzeiten zur Schau gestellt hat. Auch in Deutschland herrscht in vielen Köpfen noch die Höherstellung des Mannes gegenüber der Frau vor und auch hier glauben noch zu viele, Mann dürfe sich nehmen was gefällt. Des einen Kopftuch ist also des anderen Pfefferspray, eingesetzt zur Wehr gegen die Fremdbestimmung des eigenen Körpers. Also genau das Gegenteil von dem, was mit einem Kopftuch eigentlich verbunden wird. Oder ist es doch nur integrationshemmend, wie Kritiker behaupten?

Fakt ist: Viele Mädchen und Frauen, die sich heute in Deutschland für das Tragen eines Kopftuches entscheiden, sind bereits in unsere Gemeinschaft integriert. Nicht selten sind ihre Familien bereits seit mehreren Generationen hier. Sie sind Deutsche und leben ihr Leben frei und selbstbestimmt. Entgegen aller Vorurteile kommen sie meist nicht aus bildungsfernen Haushalten, sondern entstammen aus einem gebildeten, oftmals städtischem Milieu. Sie handeln weder fremdbestimmt, noch aus Schutz, sondern gehen damit ihren eigenen Weg zwischen der islamischen Tradition ihrer Eltern und Großeltern und ihren eigenen Ansichten. Tatsächlich zeigen sie einen hohen Grad an Mut und Selbstbewusstsein - denn nach wie vor bringt ein einfaches Tuch auf dem Kopf auch Probleme und Konfrontationen nicht nur im beruflichen Umfeld mit sich. Mangelnde Deutschkenntnisse,  Job als Putzfrau oder die Aberkennung des Deutsch-Sein sind nur einige der rassistischen Erfahrungen, von denen Trägerinnen immer wieder berichten.

Auch in meinem Fall gab es neben Zuspruch auch heftig geführte Debatten, als ich meinen Versuch ankündigte, einen Monat lang ein Kopftuch tragen zu wollen. Leider nicht mit mir, sondern hinter mir. Ich kann mir vorstellen, wie diese gelagert sind, auch wenn ich den Inhalt nicht wirklich kenne. Es ist vermutlich für viele, die mich kennen, nur schwer oder auch gar nicht vorstellbar, warum eine extrovertierte, kulturell sehr westlich geprägte und deren Vorzüge genießende junge Frau wie ich es bin, sich solch eine „Bürde“ selbst auferlegt. Nun, die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wie kann man über etwas urteilen, dass man selbst nicht kennt? Das bezieht sich nicht einmal primär auf das Tragen des Kopftuchs selbst, sondern vorrangig auf die Gesellschaft, die ich gerne für ihre Engstirnigkeit und Selbstverliebtheit verurteile. Die Debatten und Rechtsurteile bezüglich des Tragens von religiös motivierten Kopfbedeckungen sind mir bekannt und werden von mir scharf kritisiert. Unbekannt ist mir jedoch das unmittelbare Empfinden der Reaktionen auf der Straße, des persönlichen Umfelds und meiner eigenen Arbeitswelt. Was genau es heißt, ein Kopftuch in Deutschland zu tragen, werde ich in den nächsten Wochen soweit es mir möglich ist, herausfinden.  

Donnerstag, 29. August 2013

RosenKrieg am Horizont


Nehmen wir an, Ihre Nachbarn streiten sich. Im Nachbarhaus oder in der Wohnung über Ihnen streiten sie sich so lautstark, dass an ein Revival vom legendären ‚Rosenkrieg‘ zu denken ist und man sich um Mann, Frau und Kronleuchter (vom Hund ganz zu schweigen) ernsthaft Sorgen machen muss. Nehmen wir an, dass Sie zu dem Teil der Bevölkerung gehören, die Zivilcourage besitzen (und das ist nach Selbstauskunft ja eigentlich jeder). Was tun Sie nun also als rechtsschaffender, pflichtbewusster und ruheliebender Bürger, der Sie sind? Richtig, Sie drehen die Musik auf. Sollte das nicht helfen, versuchen Sie – je nach Beziehungsstand zu den Nachbarn – helfend einzugreifen oder  nehmen panisch das Telefon in die Hand und rufen die Polizei. Wer gar nicht handelt, kann später immer noch als betroffener, aber nichts geahnt und gehört habender  Bürger einen kleinen Gastauftritt in en RTL-News erhaschen, das sind aber immer die anderen. Dabei stellt Zivilcourage die Grundlage für das Leben der Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft ohne Angst vor Gewalt.
Nun steht Syrien nicht in unmittelbarer Nachbarschaft zu uns. Und auch die Analogie zum Rosenkrieg hinkt. Dennoch zeigt es auf, wo die Grenzen unserer Nächstenliebe liegen – an den Landesgrenzen Deutschlands . Uns erreichen Bilder aus Syrien sowie anderen Regionen der Welt. Nie waren wir – den Medien sei Dank – in Friedenszeiten näher an dem Elend anderer Menschen dran, und dennoch waren wir wohl nie weiter weg. Wir ereifern uns zwar, wir zeigen Empathie und fluchen über die verdorbene Welt. Kurzzeitig. Darauf ein lassen wir uns nicht. Denn das würde zwingend ein Handeln fordern.  „Zivilcouragiert handelt, wer bereit ist, trotz drohender Nachteile für die eigene Person, als Einzelner (seltener als Mitglied einer Gruppe) einzutreten für die Wahrung humaner und demokratischer Werte […]“, schreibt Wikipedia. Aber was kann man schon tun? Versteckt hinter der Hilflosigkeit des kleinen Bürgers gibt es ab und an einen Aufschrei, eine Demo vielleicht – kaum größer als eine Hochzeitsgesellschaft. Große Taten sind spätestens seit dem Irakkrieg vorbei. Wir zeigen uns solidarisch mit dem Volk, Asyl gewähren wollen wir aber nicht. Eine militärische Intervention kommt für die meisten nicht in Frage. Der deutsche Soldat kämpft für deutsche Leben bitteschön, sonst wäre er ja kein deutscher Soldat. 
Die Ärzte sangen einst „Gewalt erzeugt Gegengewalt, hat man dir das nicht erklärt“. Als Homo sapiens, der sich nicht nur durch seinen aufrechten Gang, sondern besonders durch seine Gabe der Selbstreflexion aus der Masse der Lebewesen heraushebt, sollte man dies natürlich nicht als Naturgesetz verstehen und danach handeln. Ein Eingreifen in konfliktbehaftete Regionen muss gut überlegt werden. Allem voran müssen unweigerlich diplomatische Verhandlungen und gegebenenfalls politische und wirtschaftliche Sanktionen erfolgen. Der Konflikt in Syrien hat diese Ebenen aber schon längst verlassen. Spätestens seit dem Einsatz von chemischen Waffen darf die Welt nicht tatenlos zusehen. Dabei ist es egal, ob das Giftgas von Assads Regime oder von den Rebellen eingesetzt wurde. Das zwingende Moment ist die schlichte Tatsache, dass solche Waffen eingesetzt werden. Der gute Bürger unserer zivilen Gesellschaft hat damit aber wenig am Hut. Syrien ist weit weg und man selbst nicht in Gefahr. Deshalb hält er seine Siebensachen zusammen, schnappt sich eine Chipstüte und dreht einfach die Musik lauter. 

Samstag, 24. August 2013

Die Weltmeisterschaft – mehr als nur ein Titel -Wie Obdachlose die WM 2010 erleben-

Es ist wieder soweit. Seit zwei Wochen fliegen uns die Bälle um die Ohren. Die WM hat sich ihren Platz in unsere Wohnzimmer, Kneipen und das öffentliche Treiben gesucht. Um unsere Aufmerksamkeit zu kämpfen braucht sie nicht. Laut einer Studie schauen in diesen Tagen 90 Prozent der Deutschen Fußball und öffnen der Weltmeisterschaft Tore und Türen. In Zeiten starker Euphorie, Jubel und Patriotismus nehmen dennoch 10 Prozent nicht an diesem gesellschaftlichen Ereignis Teil und zeigen sich gänzlich unbeeindruckt – sie verweigern Fähnchen, Lobchöre und Hupkonzerte. Doch was ist mit denen, die nicht mehr an der Gesellschaft teilnehmen?

Ich treffe mich mit Arno, einem 57-jährigen Obdachlosen und seinem Schlafplatzkollegen Dieter, 52 Jahre auf den Ringen in Köln. Die beiden wurden nicht Freunde beim freizeitlichen Fußballspielen, sondern erst auf der Straße, wo sie seit mehr als zehn Jahren leben. Auch heute sind sie zusammen unterwegs, sitzen am Rande des Bürgersteigs irgendwo in Köln und es scheint, als nähmen sie kaum Notiz von den vielen Fans, die laut ihrer Enttäuschung über die 1:0 Niederlage gegen Serbien Luft machen. Es wird geweint, gelacht, gegrölt und gegen die paar serbischen Fans, die sich zum Hupkonzert zusammengefunden haben, gepöbelt, aber auch gefeiert. Ruhe strahlen hier nur Arno und Dieter aus, wie sie da sitzen auf ihren khakifarbenen Schlafsäcken. Kein schwarz-rot-gold auf 1,5 m² – die einzigen in der gesamten Stadt, wie es scheint. „Fußball hat mich auch schon früher nicht interessiert“, erzählt Arno.
Ganz früher, als Junge, hätte er schon mal gespielt, aber das sei lange her. Danach hätte er andere Interessen entwickelt. Bald darauf fingen seine Probleme an, die ihn heute hier sitzen lassen, „da half auch kein Fußball mehr“. Dieter hingegen hat, als er noch einen Fernseher, Wohnung und ein „intaktes Leben“ hatte, oft Fußball geschaut. „HSV – das war meine Mannschaft.“ Letztendlich nutzte er die gemeinsamen Fußballabende mit Freunden mehr zum Trinken, als aus Interesse am runden Leder und auch daheim, wenn er allein war, wurde das Bier irgendwann wichtiger als das Spiel. Dennoch hätten sie heute schon gerne mehr Anteil an der WM. „Das ist immer noch mein Land, auch ich habe Stolz – das vergessen viele oder glauben es nicht.“ 
Die Chancen diesen Stolz zu zeigen sind gering. Aus Kneipen werden sie vertrieben, Geld für den Eintritt im Stadion haben sie sowieso nicht und willkommen beim Public Viewing fühlen sie sich schon gar nicht. Flaschen einsammeln am Rande, das dürfen sie noch; ein WM-Feeling wie es der Rest Deutschlands gerade erlebt, ist dies jedoch nicht. „Wir schauen schon mal auf den Anzeigetafeln der KVB die Ergebnisse nach. Aber das war’s.“ Von dort erfahren sie dann auch, welche Mannschaften überhaupt gegeneinander antreten. „Trotzdem ist es nicht so schlecht. Die Leute haben Spaß, diese Stimmung überträgt sich. Zudem sind sie so beschäftigt und lassen uns in Ruhe.“ Nur wenn Deutschland verliert, dann kriegen die zwei einige Aggressionen ab – das kennen sie schon aus vergangenen Meisterschaften. Da bleibt für die zwei nur zu hoffen, dass Deutschland Weltmeister wird …